KOLUMNE VON DENIZ YÜCEL
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Sie schlafen den Schlaf der Gerechten: Gezi-Besetzer. Bild: reuters |
Der Moment, als die letzten paar hundert Leute von der Polizei aus dem Gezipark vertrieben werden. Dicht aneinandergedrängt und in Schwaden von Reizgas gehüllt, kaum mehr als zwei Meter Sicht, dabei trotzdem darauf achtend, auf den Gehwegen zu bleiben und nicht die frisch gepflanzten Blumenbeete zu betreten. (Klingt kitschig. War aber so.)
Einander wildfremde Menschen, die sich nach der Räumung des Platzes irgendwo in der Stadt begegnen und plötzlich ein gemeinsames Thema haben. Erfahrungen austauschen, die einander ähneln, die davon zeugen, Teil von etwas Wunderbarem gewesen zu sein. Der Blick nach vorn: Wie geht’s weiter? (Es muss doch weitergehen. Das kann nicht alles gewesen sein.)
Lachen. Über Graffiti. Über Demoparolen. („Nieder mit manchen Sachen!“) Selbst welche erfinden. Brüllen. Singen. Sprühen. Lachen. (Almancilar burada, Tayyip nerede?)
Eine Stadt. Im Ausnahmezustand. Die große Party im Gezi-Park und auf dem Taksim-Platz, das normale Geschäfts- und Nachtleben auf der Istiklal. (Es gibt ein nicht so ganz falsches Leben im Falschen.)
Polizisten auf dem Taksimplatz am Rande eines Klavierkonzerts im Gespräch mit Demonstranten: „Hast du jemals einem Klavierkonzert gelauscht?“ – „Nein, noch nie. – „Und, ist das hier gerade nicht toll? Ein Klavierkonzert auf einem öffentlichen Platz?“ – „Ja, es gefällt mir sehr.“ – „Aber so was wird es in diesem Land nicht mehr geben, wenn ihr diesen Kampf gewinnt.“ (Hat er später weniger Gaspatronen verschossen, hat er in die Luft gezielt anstatt direkt auf Menschen?)
Die Jungs von Çarsi, die eine Art Eingreiftrupp bilden, weil sie glauben, du bist in einer schwierigen Situation, und dich da rausprügeln wollen. (War nicht nötig. Trotzdem danke, Jungs. Ihr seid rührend.)
Ein bescheuerter deutscher Akzent (das R, das nicht rollt), der zum ersten Mal zu etwas nützlich ist. (Was fragst du so, bist du ein Polizist oder zivil? – Schon mal einen Zivilpolizisten mit so einem Akzent gesehen? Na siehste.) Reden. Mit Linken, mit Kemalisten, mit Kurden, mit Schwulen und Lesben, mit Ultras, mit der 90er-Generation, mit Bankern, Arbeitern, Muslimen.
Die endlosen Diskussionen nach der Räumung des Geziparks. Der Anfang: Einer steht auf und ruft, man solle doch bitte den Müll aufsammeln. (Selbst die Kippenstummel werden aufgesammelt. Ist das übertrieben?)
Die jungen Leute in der Provinz, die sich freuen, dass jemand gekommen ist, um ihnen zuzuhören. (Nein, zuhören heißt nicht unbedingt zustimmen.)
Die vielen Menschen, bekannte und unbekannte, die ihre Wohnungen öffnen. Manchmal ein Gästezimmer, meist aber Sofas, jede Menge Sofas. (Kommt zu uns, wir haben auch eins.)
Der schwule Freund, der im Baumkostüm mit pinkfarbenem Helm und Megafon zwei Stunden lang die Menge anführt. (Immer noch nicht müde? – Ich könnte tot umfallen. Mach ich aber nicht.)
Der letzte Abend. Endlich Fisch. Endlich Raki. (Serefine Tayyip.)
Ein letzter Text. Dann noch eine allerletzte Verabredung, ein letzter Abschied. Abends der Flug.
Besser: Zurückkehren. Bis dahin: Hosçakalin çocuklar.
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