Der türkische Staat greift nach dem NetzErdogan will seine Gegner dingfest machen
28.06.2013 · Die türkische Regierung zieht alle Register, um die Opposition zu zerstören. Dabei nimmt sie sich auch das Internet vor. Facebook und Twitter sollen parieren und die Namen der Dissidenten nennen.
Von KAREN KRÜGER© DPAEs ist noch nicht vorbei: Am Mittwoch protestierten Erdogan-Gegner abermals auf dem Taksim-Platz. Sie gedachten dabei eines Aktivisten, der in Ankara von einem Polizisten erschossen worden war. Zuvor hatte das zuständige Gericht entschieden, dass der Polizist aus Notwehr gehandelt habe, und ihn auf freien Fuß gesetzt.
Sie sind ein Team von sechzehn Leuten, haben aber kein festes Büro. Sie arbeiten 24 Stunden täglich, in Kleingruppen an wechselnden Adressen in Istanbul, um ihre Sicherheit nicht zu gefährden. Sie wollen ihre Namen nicht nennen, und auch keine Beschreibung, wie sie aussehen, soll in der Zeitung stehen. Das Risiko, von der türkischen Polizei aufgespürt und verhaftet zu werden, ist ihnen zu groß: den Mitgliedern des Teams „Soziale Medien und Krisenmanagement“ von der Organisation „Taksim Dayanismasi“.
Seit Beginn der Revolte gegen die Regierung Erdogan ist ihr Name, der sich mit „Solidaritätsgruppe Taksim“ übersetzen lässt, in aller Munde. Sie organisiert den Widerstand nicht und möchte auch nicht als politische Organisation verstanden werden. Gegründet wurde sie 2011 als Dachorganisation für 127 Gruppierungen, die der stadtplanerischen Umwandlung des Taksim-Platzes Einhalt gebieten wollen. Ursprünglich nutzte sie die sozialen Medien nur für interne Verabredungen. Je mehr sich der Protest von den Bäumen des Gezi-Parks löste und der Regierung zuwandte, desto mehr wurde ihr Facebook- undTwitteraccount jedoch zum Sprachrohr der Revolte.
Erdogan sieht nur „Unruhestifter“
In der ganzen Türkei geschah Ähnliches mit durchschlagendem Erfolg: Während die meisten türkischen Medien die Proteste kaum thematisieren, sind sie auf Twitter oder Facebook allgegenwärtig. Sämtliche Demonstrationen kamen über dort verbreitete Aufrufe zustande, auf fast alle hatte auch die „Solidaritätsgruppe Taksim“ aufmerksam gemacht. Sie verbreitet zudem, wo die Polizei gerade interveniert, wo man in der Nähe dieser Orte Erste Hilfe bekommt, welche Anwälte zur Verfügung stehen und welche Hotels und Cafés ihr WiFi den Demonstranten zur Verfügung stellen. Der türkischsprachige Twitteraccount der Organisation zählt 183.584 Follower, was viel ist, wenn man bedenkt, dass es noch unzählige andere gibt. Ihr englischsprachiger Account wird von 5397 Leuten verfolgt. Eine Frau, die in diesem Artikel Ayse heißen soll, sagt: „Wir tun nichts Verbotenes.“
Erdogan sieht das anders. Er hat Dienste wie Twitter als „Unruhestifter“ bezeichnet, die Lügen über die Regierung verbreiteten, um die Gesellschaft zu terrorisieren. Deshalb will er nun kontrollieren, was in den sozialen Medien passiert. Die Regierung hat Erfahrung damit: Im vergangenen Jahr erzwang sie, dass die Video-Plattform Youtube unter einer türkischen Web-Domain arbeitet, da das deren Kontrolle erleichtert. Und auch jetzt geht die Regierung wieder vor, als strebe sie chinesische Verhältnisse in der Türkei an.
Durch Steuerstrafen zum Gehorsam
Zunächst nahm die Polizei in den vergangenen Wochen mindestens 25 Twitternutzer wegen der Verbreitung „irreführender und beleidigender Informationen“ fest. Dass es in Wirklichkeit vor allem darum geht, Regierungskritiker mundtot zu machen, zeigt die fast gleichzeitig gestartete Twitter-Kampagne des Bürgermeisters von Ankara. Er verbreitete, dass eine türkische BBC-Journalistin eine britische Agentin sei.
Laut BBC erhielt die Frau danach Drohungen. Zuvor hatte der türkische Ministerpräsident den internationalen Medien vorgeworfen, sie berichteten falsch über die Proteste, namentlich nannte er den amerikanischen Nachrichtensender CNN, die Nachrichtenagentur Reuters und die britische BBC. Ihre Kooperation mit dem türkischen Privatsender NTV hat die BBC inzwischen aufgekündigt. NTV hatte sich geweigert, einen Beitrag auszustrahlen, in dem es um die mangelnde Berichterstattung türkischer Medien über die Proteste ging - systematisch hat Erdogan sie in den vergangenen Jahren zu seinen ergebenen Hofberichterstattern gemacht.
Twitter in der Türkei ohne Vertretung
Schwieriger gestaltet sich der Zugriff auf die sozialen Netzwerke Facebook und Twitter. Die türkische Regierung setzt deshalb nun auf Angst vor Verhaftungen, die zur Selbstzensur führen soll. Und so behauptete der türkische Kommunikationsminister Binali Yildirim einfach, Facebook habe zugestimmt, der türkischen Regierung die Daten von Nutzern zu geben, die Einträge über die Proteste geschrieben haben. Wie zu erwarten, löste die Meldung Panik unter den türkischen Facebook-Nutzern aus. Später dementierte Facebook jedoch, jemals einer solchen Anfrage der türkischen Regierung zugestimmt zu haben. Auch bei Twitter lief eine entsprechende Bitte offenbar ins Leere. In Washington sagte Dick Costolo, der Vorstandschef von Twitter: „Unsere öffentliche Plattform ist dazu da, zu sagen, was man denkt. Genau das machen die Nutzer in der Türkei.“ Eine Meinung zu den Protesten rund um den Gezi-Park habe das Unternehmen überdies nicht.
Anders als Facebook hat Twitter keine Vertretung in der Türkei. Das Unternehmen kann deshalb nicht, so wie bei zahlreichen türkischen Medienunternehmen geschehen, durch Steuerstrafen zum Gehorsam gezwungen werden. Sicherlich deshalb hat der Minister Yildirim nun gefordert, Twitter solle ein Büro in der Türkei eröffnen. Der Vorschlag, jeden Türken, der einen Twitteraccount einrichtet, mit einer nationalen Identifikationsnummer zu versehen, soll zuvor als technisch unmöglich abgelehnt worden sein. Yildirim sagte: „Wenn wir Informationen haben wollen, dann wollen wir, dass es jemanden in der Türkei gibt, der uns das liefern kann.“ Es müsse einen Ansprechpartner geben, dem eine Beschwerde übermittelt werden könne und der veranlasse, festgestellte Fehler zu beheben. Doch was versteht die Regierung unter Fehlern?
Der Imam bleibt bei der Wahrheit
Offenbar zählen dazu alle Einträge, die Erdogan und seine Regierung kritisieren oder zum Protest aufrufen. Tatsächliche Fehler, also Falschmeldungen, kommen natürlich vor in sozialen Netzwerken. Zumindest die Leute von der „Solidaritätsgruppe Taksim“ versuchen, sie zu vermeiden. Sie haben dafür ein strenges Regelwerk entwickelt, das Ayse erklärt: Geschrieben werden Tweets von allen, aber nur vier Leute aus dem Team dürfen sie twittern. Tweets von fremden Accounts werden überprüft, bevor sie weitergeleitet werden. Dazu wird der Ursprungsaccount beobachtet: Welche Followers hat er, was für Tweets sind zuvor von ihm veröffentlicht worden?
Retweeted werden Informationen nur, wenn sie an unterschiedlichen Stellen in unterschiedlichem Wortlaut auftauchen. Wenn das berichtete Ereignis tatsächlich stattgefunden hat, haben es in der Regel auch mehrere Leute beobachtet und berichten unterschiedlich davon. Außerdem versucht die „Solidaritätsgruppe Taksim“, Fotos oder Filme als Belege zu finden, und hat ein Netzwerk von Freunden, die an unterschiedlichen Stellen in der Stadt unterwegs sind und angerufen werden können, ob das Berichtete stimmt. Telefonnummern, die über Tweets weitergegeben werden sollen, etwa von Anwälten oder Ärzten, prüft das Team, bevor es diese weiterleitet. Ayse sagt: „Das Überprüfen von Nachrichten macht uns langsam, aber dafür sind wir glaubwürdig.“
Von den Nachrichten, welche die türkische Regierung verbreitet, lässt sich das nicht sagen. Noch immer behauptet Erdogan, Demonstranten hätten in der Moschee von Besiktas Bier getrunken. Der Imam, der die Moschee bei ersten Ausschreitungen der Polizei als Lazarett für Verwundete freigegeben hatte, bestreitet dies bis heute, obwohl er sechs Stunden lang von der Antiterror-Abteilung der türkischen Polizei verhört worden ist. In einem Interview mit der türkischen Tageszeitung „Yurt“ sagte der Imam: „Ich habe niemanden in der Moschee Alkohol trinken sehen und auch niemanden, der eine Flasche mit einem alkoholischen Getränk in der Hand gehalten hat.“ Er sei ein Mann des Glaubens. Als solcher könne er nicht lügen, fügte er hinzu.Quelle: F.A.Z.
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