Sunday, June 23, 2013

Demonstranten in Istanbul



Vierundzwanzig Stunden Willkür

 ·  Geschlagen,getreten und gedemütigt: Zwei junge Männer aus Istanbul erzählen, was sie einen ganzen Tag lang im türkischen Polizeigewahrsam erlebt haben. Eine Begegnung.
Von KAREN KRÜGERISTANBUL
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Die Adresse liegt in Beyoglu. Ein Gespräch bei sich zu Hause haben die beiden Männer abgelehnt, ebenso ein Treffen in einem Café. Auch ihre richtigen Namen wollen sie nicht nennen. Sie haben zu viel Angst vor der Polizei. Wir treffen uns deshalb in der Wohnung eines Bekannten, und dort überlegen die beiden Männer nun, unter welchen Namen sie in der Zeitung zitiert werden wollen. Die Entscheidung fällt auf Harun und Hayalet. So heißen zwei Fernsehkommissare aus Ankara aus dem Team von „Behzat Ç.“. Im Fernsehen sind Harun und Hayalet rauhbeinige Kerle.

Früher haben sie Heavy Metal gehört

Die Freunde Harun und Hayalet, die mit müden Augen auf dem Sofa sitzen, sind das nicht. Sie wirken eher wie zwei Typen, die gern zusammen lustige Zeichentrickfilme schauen, dabei Unmengen von Chips essen und sich zwischendurch eine Tüte bauen. Harun ist 37 Jahre alt, klein und schmal, trägt Jeans und T-Shirt. Er arbeitet als Lehrer in einer Schule für behinderte Kinder. Hayalet ist 33, groß und breit, er trägt eine karierte, knielange Stoffhose und führt ein eigenes Geschäft. Beide haben lange Haare, die im Nacken von einem Gummi zusammengehalten werden. Sicherlich haben sie in jüngeren Jahren mal Heavy Metal gehört.
Die beiden sind beste Freunde, lernten sich in einer Zeit kennen, „als wir noch Pickel hatten“, wie Harun sagt. Seit dem vergangenen Wochenende ist ihre Freundschaft um eine Erfahrung reicher. Gemeinsam mussten sie erleben, was passieren kann, wenn man in die Hände türkischer Polizisten gerät.
Harun fängt an zu erzählen. Seine Zeitrechnung beginnt am 30.Mai, mit der Stürmung des Gezi-Parks, danach springt er hin und her zwischen den Ereignissen, als sei er im Kopf noch immer auf der Flucht vor der Polizei. Es fügt sich in das Bild zweier Männer, die in den vergangenen Wochen Erfahrungen gemacht haben, die alles, was sie bisher waren und einmal sein wollten, zutiefst erschüttert haben. Sie erlebten Dinge, die sie prägen werden - gute und schlechte -, und noch ist offen, in welche Richtung die Veränderung gehen wird.

Es war kunterbunt, sagt Harun, wie ein Regenbogen

So wie viele andere rutschten die beiden Freunde rein in die Revolte gegen Erdogan, aufgeschreckt durch die Ausschreitungen der Polizei. Sie bauten sich ein Lager unter einem Baum im Gezi-Park, und so wie Harun jetzt davon erzählt, klingt es, als seien die Tage und Nächte dort die glücklichsten ihres Lebens gewesen. Harun sagt: „Es war kunterbunt. Ein Regenbogen.“ Zum ersten Mal hätten sie erlebt, dass in der Türkei nicht alles gegeneinander gehe, sagt Harun. Hayalet sagt nur selten etwas. Er wirkt in sich gekehrt, wie tief verletzt in seinem Innern.
Was die beiden Freunde im Gezi-Park fanden, wollten sie verteidigen. Und so standen sie, nachdem die Polizei ihn abermals gestürmt hatte, an Straßensperren, wickelten Tränengasgranaten in feuchte Handtücher, um sie unschädlich zu machen, schrien Parolen, rannten auf die Polizisten zu und vor ihnen wieder weg. Steine geschmissen hätten sie nicht, sagen sie, und wenn man sieht, wie die beiden Freunde nebeneinander auf dem Sofa sitzen, glaubt man ihnen das.
Übermannte einen die Erschöpfung, legten sie sich ein paar Minuten auf den Asphalt. Sie gaben acht aufeinander, und einmal, erzählt Harun, griff er vor lauter Angst nach Hayalets Hand: Keine zwei Meter vor ihnen richtete ein Wasserwerfer sein Strahlrohr auf sie. „Tief durchatmen“, habe Hayalet geschrien. Doch erst, als Harun Hayalets Hand in seiner spürte, gelang ihm das. Später bekamen sie so viel Tränengas ab, dass Hayalet den schmalen Harun in einen Hauseingang ziehen musste, damit er nicht ohnmächtig wurde.

Vierundzwanzig Stunden Busfahrt mit der Polizei

Sie liefen in einen Stadtteil, von dem sie dachten, dass dort nichts zu befürchten sei. Sie täuschten sich: In einem Café nahm die Polizei sie fest. Zusammen mit 48 anderen Gästen, die dort Kaffee getrunken hatten.
Der türkische Anwaltsverein zählt viertausend Leute, die ihn wegen einer Verhaftung in den vergangenen zwei Wochen kontaktiert haben. 26 Personen wurden in ihren Wohnungen festgenommen, bei 96 der Verhafteten machte die Polizei Hausdurchsuchungen. Die Gefängnisse in Istanbul sind überfüllt. Laut Gesetz darf man in der Türkei maximal 24 Stunden lang in Gewahrsam genommen werden. Damit diese Zeit trotz der vollen Zellen ausgereizt werden kann, haben sich die Polizisten etwas ausgedacht: Sie stecken die Festgenommenen in ganz normale Stadtbusse und fahren vierundzwanzig Stunden lang mit ihnen durch die Stadt.
Auch Harun und Hayalet erlebten das nach ihrer Festnahme. Es waren Stunden, in denen sich physische und psychische Gewalt abwechselten. Die Busse sind Räume, in denen die Polizei mit einem machen kann, was sie will.

Schlagstöcke, Fußtritte, Beschimpfungen

Zu zweit griffen sich die Polizisten jeweils eine Person aus dem Café. Die Leute wurden fixiert, geschlagen und getreten. Hayalet beschreibt, welches Café er meint. Von dessen Eingang bis zum Parkplatz der Busse sind es etwa zweihundert Meter. Etwa 150 Polizisten hätten sich entlang der Strecke aufgereiht gehabt, sagt er, die Verhafteten wurden an ihnen vorbeigezerrt. Hayalets Kopf wurde an seinen langen Haaren hin und her gezerrt, jemand trat ihm ins Gesicht. Die blauen Flecken an seinem Oberarm, noch jetzt kann man sie gut sehen, stammen von Beamtenhänden.
Als alle im Bus saßen, umringten die Polizisten den Bus, schlugen mit ihren Schlagstöcken gegen die Fensterscheiben, schrien und beschimpften die Leute. „Wegen euch sind wir nicht zu Hause“, habe einer von ihnen gerufen. Vor allem auf die jungen Frauen hätten die Polizisten es abgesehen gehabt, erzählt Hayalet. Sätze wie: „Dich ficken wir nachher noch“, verbunden mit dem Hämmern der vermummten Polizisten an die Fensterscheiben, lösten bei einer Frau eine Panikattacke aus. Sie bekam kaum noch Luft.
Die Polizisten waren gut darin, den Stresspegel der Verhafteten hoch zu halten. Sie machten Lärm, und das, sagt Harun, sei vielleicht sogar das Schlimmste gewesen. Er stützt den Kopf in die Hände, die Stimmen der Polizisten, die alle gleichzeitig auf die beiden einschrien, sind da noch drin: Schau mich mal an, was schaust du mich so blöd an? Was fällt dir ein, mich anzuschauen? Setz dich dorthin, setzt dich dahin, komm mal her, geh wieder weg, steh auf, setz dich hin, geh mal den Gang entlang, was gehst du da den Gang entlang?

„Erdogan macht sie zu streunenden Hunden“

Sehr jung seien die Polizisten gewesen, sagt Hayalet, „der älteste war höchstens 26 Jahre“. Übermüdet seien sie gewesen, meint Harun, denn kaum, dass die Polizisten neben den Festgenommenen im Bus Platz genommen hatten, nickten einige von ihnen ein. Nicht gut gerochen hätten sie, sagen beide, und auch das glaubt man sofort, denn richtige Unterkünfte hat man den Polizisten nicht gegeben. Seit Beginn des Einsatzes schlafen sie in Bussen, liegen ausgestreckt auf Mauern und Bänken, haben keine Waschgelegenheit.
Hayalet sagt: „Erdogan macht sie zu streunenden Hunden.“ Diese Demütigung gaben sie den Verhafteten zurück. Keiner der Polizisten im Bus sei Istanbuler gewesen, sagen die Freunde. Sie hätten anders gesprochen, sich nicht ausgekannt. Der Polizist, der neben Hayalet saß, habe ihn ständig gefragt, durch welchen Stadtteil der Bus gerade fahre. Als sie eine der Bosporusbrücken passierten, schaute der Polizist aus dem Fenster und sagte: „Die sehe ich jetzt zum ersten Mal.“
Die Regierung hat Polizisten aus der ganzen Türkei in Istanbul zusammengezogen, genauso hat sie Wasserwerfer aus kurdischen Städten dorthin gebracht. Für die Menschen im Osten gehörte die Gewalt lange zum Alltag; im Westen kannte man sie nur aus dem Fernsehen. Den Krieg, den die Regierung lange dort gegen die Zivilbevölkerung führte, hat Erdogan nun auch in den Westen der Türkei gebracht.

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